Keynes: Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder
Wer über das gute Leben nachdenkt oder mit anderen darüber spricht, wird ganz schnell darauf gestoßen: Das gute Leben muss man sich leisten können. Zumindest hilft es, wenn man sich um die wirtschaftliche Seite des Lebens keine Sorgen machen muss. Denn, ach, das Leben ist halt hart, das Geld knapp und jeder sich selbst der nächste. Wer gegen dieses Dogma opponiert oder leise Zweifel anmeldet, wer gar behauptet, es sei genug für alle da, ein gutes Leben auch für die Vielen möglich, der wird von den Realisten schnell eingenordet: Solcherlei Ideen seien naiv, gefährlich, romantisch. Und so weiter. Knappheit ist eben die Geißel in der Menschheitsgeschichte und sie treibt uns auch heute noch an. (Paradoxerweise wahrscheinlich heute noch mehr als zu anderen Zeiten).
Wie erfrischend, wie nüchtern, wie herausfordernd ist da die Lektüre des Essays über die „Wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“, die der britische Ökonom John Maynard Keynes schon 1930 beschreibt. Mitten in der damaligen Weltwirtschaftskrise entwickelt Keynes eine langfristige Perspektive, ordnet ein, wie die ökonomischen Verwerfungen der Gegenwart zum langfristigen Trend passen. Er blickt 100 Jahre in die Zukunft, also fast in unsere Zeit, nicht als Träumer oder Schwärmer, sondern auf der Basis einer ökonomischen Entwicklung, die nur einen Schluss zulässt: »Unter der Annahme, dass keine bedeutenden Kriege und keine erhebliche Bevölkerungsvermehrung mehr stattfinden, komme ich zu dem Ergebnis, dass das wirtschaftliche Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst sein dürfte, oder mindestens kurz vor der Lösung stehen wird. Dies bedeutet, dass das wirtschaftliche Problem − wenn wir in die Zukunft sehen − nicht das beständige Problem der Menschheit ist.«
Selbst wenn die Bedingungen für diese Prognose ambitioniert sind (keine großen Kriege, kein erheblicher Bevölkerungszuwachs), ist die Aussage für einen Ökonomen eine einzige Häresie. Denn nichts ist ja eigentlich so sicher, wie die Unersättlichkeit der menschlichen Bedürfnisse. Aber Keynes differenziert zwischen den absoluten und den relativen Bedürfnissen. Erstere seien unabhängig vom Verhältnis zu den Mitmenschen und deshalb irgendwann gesättigt. Letztere entstünden im Vergleich mit anderen, seien möglicherweise tatsächlich unersättlich, aber »es mag bald ein Punkt erreicht sein, ...dass wir es vorziehen, unsere weiteren Kräfte nicht-wirtschaftlichen Zwecken zu widmen.«
Was das Essay aber vor allem so lesenswert macht, sind die Schlussfolgerungen, die Keynes aus der erwarteten Lösung des ökonomischen Problems zieht. Denn das gute Leben der Vielen wird die meisten von uns erst mal überfordern: »Wenn das wirtschaftliche Problem gelöst ist, wird die Menschheit eines ihrer traditionellen Zwecke beraubt sein. Wird dies eine Wohltat sein? Wenn man überhaupt an die wirklichen Werte des Lebens glaubt, so eröffnet sich zum mindesten die Aussicht auf die Möglichkeit einer Wohltat. Dennoch denke ich mit Schrecken an die Umstellung der Gewohnheiten und Triebe des durchschnittlichen Menschen, die ihm über ungezählte Generationen anerzogen wurden, und die er nun in wenigen Jahrzehnten aufgeben soll. Um die heutige Sprache zu gebrauchen − müssen wir nicht mit einem allgemeinen ‚Nervenzusammenbruch‘ rechnen?«
Tatsächlich scheint einer der wichtigsten Gründe dafür, warum Keynes Prognose noch nicht verwirklicht ist, eben diese Angst vor dem kollektiven Nervenzusammenbruch zu sein. Wir leben also – auch das hat Keynes in seinem Essay antizipiert – in einer Art Übergangszeit. Und in der können einige längst schon leben, als ob es das Knappheitsproblem nicht mehr gibt, während andere unter der Knute der Knappheit ihr Tagwerk verrichten. Hilfreich aber sei es jetzt schon, sich auf die neuen Zeiten einzustellen, die richtigen Prioritäten zu setzen: »Vor allem aber lasst uns die Bedeutung der wirtschaftlichen Aufgabe nicht überbewerten oder ihren vermeintlichen Notwendigkeiten andere Dinge von größerer und beständigerer Bedeutung opfern.«
John Maynard Keynes: Economic Possibilities for our Grandchildren (1930). Deutsche Übersetzung von Norbert Reuter. In: Norbert Reuter: Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität. Wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen Gestern und Morgen. Metropolis Verlag Marburg 2007. 18 Euro. Der Essay ist auf Deutsch online hier zu lesen.